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Die Blutzahl von 1833

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Es gab auch sonst noch allerlei Dinge, die das Schulleben verschönten und einen Anreiz zu Fleiß und gesittetem Betragen bildeten. Jährliche Schulzeugnisse für sämtliche Klassen wurden nicht verteilt, aber die Besten wurden doch in mancherlei Weise ausgezeichnet und bevorzugt. So hatten sie das Recht, die Hefte zu verteilen und zum Schluß der Stunde wieder einzusammeln. Einer von den oberen Klassen hatte die ehrenvolle Aufgabe, die „Schulbäzle“, die ganz Kleinen auf der vordersten Bank, im Flüstertone ihre Buchstabier- und Leseübungen machen zu lassen, während der Lehrer mit einer der anderen Klassen beschäftigt war.
Ein ganz besonderes Vorrecht war es, zweimal in der Woche die drei unteren Klassen überwachen zu dürfen, während der Lehrer mit den vier höheren am Vormittagsgottesdienst teilnahm. Er hatte ja neben seiner Lehrtätigkeit auch noch die des Organisten und sogar des Mesners. Diese letztere nahmen wir ihm, soweit dies möglich war, mit Freuden ab, ob es sich nun darum handelte, die Liedertafeln in der Kirche zu bestecken, die Altar- und Kanzelbekleidung zu wechseln oder die Glocken zu läuten. Gerne benutzten wir Buben jede Gelegenheit, uns in der Kirche zu schaffen zu machen, besonders, wenn damit noch eine kleine Verknappung der Schulzeit verbunden war, wie etwa beim Mittagsläuten um elf oder zwölf Uhr, zu dem die beiden "Diensttuenden" "offiziell" zehn Minuten entlassen wurden.
Wenn die letzten Glockentöne des Läutens zitternd verhallten, dann standen wir noch einen Augenblick: im dämmrigen Glockenhaus und lauschten hinein in den weiten, schweigenden Raum der tausendjährigen Kirche. Ganz sachte und unhörbar kam es aus den dunklen Ecken und versteckten Nischen hervorgekrochen, schlich sich an uns heran, leise, leise, legte sich auf unsere Sinne und fand den Weg bis zum Herzen. Wir wußten nicht, was es war, aber wir fühlten, daß es da war und daß wir ihm ergeben waren. So standen wir oft minutenlang regungslos und lauschten und lauschten, bis der Gedanke an die Blutzahl, droben im Mittelbau der Türme, wieder Leben und Bewegung in uns brachte.
Dann huschten wir behutsam durch das Kirchenschiff, über die Steinfliesen hin, die trotz aller Vorsicht unter den sandigen Stiefeln aufkreischten, daß es durch den weiten, stillen Raum hallte bis zum hohen Chor mit dem seltsam verzierten Gestühl. Es war, als müßten die geschnitzten Figuren, die dort wie schlafend standen, davon erwachen und erschreckt auffahren. Zum Glück war bald die Holztreppe erreicht, wo die Tritte gedämpft klangen; schnell ging es über die Empore hinauf zur Orgel und nun weiter durch das enge, gewölbte Pförtchen.
Wir standen im Innern des südlichen Turmes. Dunkel war es hier, unheimlich dunkel; und das Schweigen, das schon im weiten Kirchenschiff beklemmend gewirkt hatte, schien sich hier zu verdichten und näher heranzurücken, daß man das klopfende, sausende Blut in den Ohren hörte. Langsam gewöhnten sich die Augen an die Finsternis und erkannten in dem schwachen Lichtschimmer, der von oben herunterfiel, ein paar Schatten, die Umrisse von Stiegen, die sich an den Wänden höher und höher emporwanden. Vorsichtig tastend, halb gehend, halb auf allen Vieren legten wir die ersten Stufen zurück. Doch plötzlich stockten wir; ein Geräusch drang an unser Ohr, leise und abgehackt, und es kehrte wieder und wieder in denselben eintönigen kurzen Pausen.

Es vermochte nicht die entsetzliche Stille zu beleben, es ließ sie nur noch fühlbarer werden, wie der Blitz das nächtliche Dunkel, das er jäh zerreißt, nur noch schauriger erscheinen läßt. Reglos, atemlos standen die Buben, bis einer auf den Gedanken kam, daß es die alte Turmuhr sei, die ihr eintöniges Tick-Tack in das Schweigen hineinschickte. Kühner drangen wir vorwärts und standen bald vor einer kleinen engen Öffnung in der Turmwand, die ein Türchen wie ein Laden verschloß. Es war der Eingang zum Mittelbau der Türme.
Behutsam schoben wir uns einer nach dem andern hindurch, hinein in einen Raum, dessen Größe im Halbdunkel nicht zu erkennen war. Spärlicher Lichtschein fiel durch die Spalten eines schlecht schließenden Ladens, streifte an der Wand hin, die er matt erhellte, suchte verzweifelt sich noch eine Zeitlang zu behaupten und erstarb dann in der gähnenden Dunkelheit. Nach dorthin mußten die weiten Kornböden liegen, die sich über dem Schiff der Kirche ausdehnten. Gerade noch im Bereiche des Lichtes, streckte sich ein dicker Baum vom Boden zur Decke, quer durchdrungen von einem mächtigen Prügel, dessen eines Ende sich in der Dunkelheit verlor, während das andere wie ein warnend ausgestreckter Arm nach der Wand zu weisen schien, nach der alten grauen Turmwand, auf der sich im fahlen Lichtschein die vier gewaltigen, dunkelrot schimmernden Ziffern vom Grunde abhoben: 1 8 3 3.
Starr, wie angewurzelt standen wir davor, und vor unseren Augen spielte sich noch einmal der tragische Unfall ab, dem hier ein erschreckend nüchternes Denkmal gesetzt war.
An einem heißen Septembertage des Jahres 1833 war es, da standen zwei junge Burschen hier oben an dem Windebaum und schafften mit ihres Leibes Kraft den "Zehnten", die Abgabe von der bäuerlichen Jahresernte an den Fürsten, von unten hinauf in die Kornböden. Mühsam wanden sie die schweren Säcke auf und keuchten unter der Anstrengung auf dem heißen, sonnendurchglühten Turmboden. Eben war wieder einer der schweren Säcke an dem Seil angehakt; - "Auf", tönte eine Stimme von unten. Mechanisch in gleichem Trott, langsam setzten sich die Männer oben in Bewegung und gingen schwerfällig um den Windebaum herum, den Querprügel mit der Brust und mit beiden Händen vor sich herschiebend. Langsam schwebte die Last empor, kürzer und kürzer wurde das Seil, das über die kreischende Rolle lief.

Da fühlte plötzlich einer der beiden Männer, wie seine Kräfte schwanden, er wich zur Seite, ließ den Prügel fahren und vermochte gerade noch seinem Kameraden ein entsetztes "Obacht" zuzurufen. Der versuchte noch einen Augenblick, sich der verdoppelten Last entgegenzustemmen. Vergebens; schwerfällig taumelte er zurück, und sausend traf ihn das wuchtige Ende des Querbaumes, das der andere fahren gelassen hatte, und schleuderte ihn gegen die Turmwand, daß er tot liegen blieb.
All das vermeinten wir zu sehen und mitzuerleben. - Doch plötzlich war der Bann gebrochen: Irgendwo im alten Gebälk krachte es, dort hinten in der undurchdringlichen Dunkelheit. Hastig richteten sich die Blicke dorthin, einen Augenblick nur, dann suchten sie das Türchen, und ehe wir noch wußten, wie uns geschah, waren wir wieder drüben im Turm, beim Uhrenhäuschen, ein, zwei Treppen hinunter, immer weiter, jetzt waren wir wieder bei der Orgel, durchjagten das Gestühl der Empore, stürmten über die kreischenden Fliesen und hatten auch schon die Glockenhaustüre erreicht, die uns ins Freie führte.
Mit aller Kraft schlugen wir sie zu und wagten erst, als sie donnernd ins Schloß fiel, aufzuatmen und uns zu besinnen. Wir waren bei der Blutzahl gewesen. Wenn wir dann nach solchen oder ähnlichen Unternehmungen die Schlüssel zum Glockenhaus verspätet in die Schule zurückbrachten, pflegte der Lehrer nicht zu schelten, denn er ahnte, daß der alte Bau uns wieder einmal in seinen Bann gezogen hatte. Das aber war ihm nicht unlieb, nahm doch die Kirche als Baudenkmal und wegen ihrer Beziehung zu großen, geschichtlichen Ereignissen den Mittelpunkt seines heimatkundlichen Unterrichtes ein.

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